Fifa-Chef Gianni Infantino sagte über die WM in Katar, man wolle dem Rest der Welt keine „Lektionen erteilen“. Der ehemalige Nationalspieler Thomas Hitzlsperger sagt jedoch, man müsse zwar andere Kulturen akzeptieren - nicht aber die Verletzung von Menschenrechten.
Dieser Montag ist nicht nur Plasbergs letzter Arbeitstag, sondern auch der letzte Tag des „großen Bashings gegen Katar“, wenn man Sportfunktionär Willie Lemke glaubt. Denn ab morgen, behauptet dieser, wird nur noch über Fußball geredet – und nicht mehr über den umstrittenen Gastgeber der Fußball-Weltmeisterschaft 2022. Und das sei auch gut so. Denn zum Teil, so Lemke, „war das nicht fair, wie wir umgegangen sind mit den Menschen in Katar“.
Die Fußball-WM im Nicht-Fußballland Katar, gekauft mit öligen Milliarden, sei zumindest „die umstrittenste WM aller Zeiten“, urteilt Steffen Simon, Mediendirektor des Deutschen Fußball-Bundes (DFB). Ob sich das Land unter den kritischen Augen der (West-)Weltbevölkerung verändern werde, könne man noch nicht sagen. Doch schon jetzt sei eines klar: „Katar hat den Fußball verändert.“
Wie moralisch muss der Fußball sein?
Mit Katar hat der Fußball, wenn man so will, eine neue Flughöhe erreicht. Einst als schönste (oder auch nur zweitschönste) Nebensache bezeichnet, stehen plötzlich nicht nur Menschen aus unterschiedlichen Ländern, sondern auch Themen wie Kultur, Ethik und Werte auf dem Spielfeld. Überfordert das die Sportart – inklusive aller, die sie ausüben, unterstützen und vorantreiben?
Überfordert seien zumindest die deutschen Nationalkicker, glaubt Thomas Hitzlsperger, einst selbst deutscher Nationalkicker: „Sie werden Dinge gefragt, auf die sie einfach keine Antwort haben.“ Und seien mitunter auch genervt davon, weil sie letztendlich nur eins wollen: Ball spielen. Fifa-Chef Gianni Infantino hatte dieser Haltung quasi im Vorfeld Absolution erteilt, als er in einem Brief an WM-Teilnehmer betonte, dass man bei der Fifa versuche, „alle Meinungen und Überzeugungen zu respektieren, ohne dem Rest der Welt moralische Lektionen zu erteilen“.
Nancy Faeser hat noch keine festen Reisepläne
Innenministerin Nancy Faeser, digital zugeschaltet in die Plasberg’sche Montagsrunde, weiß auch an diesem Montag noch nicht, ob sie nach Katar anreisen wird. Viel wichtiger als das Geschehen innerhalb der Stadien ist ihr sowie die Nachspielzeit des Turniers: Wie entwickeln sich die Arbeitsbedingungen weiter, was passiert mit den inzwischen gegründeten Gewerkschaften und wird ein Entschädigungsfonds tatsächlich eingerichtet? All das wären Themen, die sie gerne am Spielfeldrand diskutieren würde. Falls es dafür keine Gelegenheit gibt, bleibt sie lieber in Berlin.
„Ich würde mir wünschen, dass Sie nicht zu dieser Weltmeisterschaft fahren“, sagt Ex-Profifußballerin Tuğba Tekkal. „Bitte, liebe Frau Faeser, kommen Sie, fahren Sie nach Katar“, insistiert hingegen Willi Lemke. Weil sich die Mannschaft darüber freuen würde. Und weil Boykott nichts verändert, sondern nur zu Isolation führen würde.
Menschenrechte sind keine kulturelle Besonderheit
Nach fast drei Jahren Pandemie und fast einem Jahr Krieg in der Ukraine hätten sich die Deutschen ein paar unbeschwerte Wochen Fußballfreude verdient, findet Lemke: „Der Sport soll Menschen zusammenbringen und nicht entzweien.“ Um gleich mal als gutes Beispiel voranzugehen, verspricht Lemke aus eigener Tasche finanzielle Hilfe für die Familie eines in Katar gestorbenen nepalesischen Hilfsarbeiters, die Thomas Hitzlsperger in der ARD-Doku „Katar – warum nur?“ besucht hatte.
Dass Khalid Salman, immerhin WM-Botschafter von Katar, Homosexualität vor laufender Kamera nicht nur als „haram“ (verboten), sondern sogar als „damage in the mind“, also als „geistigen Schaden“, bezeichnet, hat Hitzlsperger, der sich selbst 2014 als schwul outete, entsetzt: „Leider spricht er etwas aus, was andere Menschen auch noch denken.“ Die Kultur anderer Völker zu respektieren habe nichts damit zu tun, dass man es auch akzeptieren muss, wenn anderswo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden: „Die Menschenrechte stehen über der Kultur."
Gas hier, Gastarbeiter dort: Die Doppelmoral der Deutschen
Andererseits scheinen die Menschenrechte für die Deutschen und deren politische sowie Wirtschaftslenker bislang weniger im Vordergrund zu stehen, wenn es um Energiepartnerschaften und andere wirtschaftliche Kooperationen geht. Da wird die Moralfrage schnell zur Doppelmoral, wie es auch der Außenminister Katars, Mohammed bin Abdulrahman Al Thani, schon einmal süffisant anmerkte. „Wird beim Sport die Moral gezeigt, die wir uns beim Gas nicht leisten können?“, fragt Plasberg pointiert.
Hitzlsperger macht zwischendrin einen durchaus charmanten Vorschlag, wie sich der eher kleine Kreis moralisch wertvoller und zugleich finanziell potenter WM-Gastgeberländer erweitern ließe, ohne gleich die Moral über Bord oder wahlweise in den Wüstensand zu kippen: indem man das Geld aus der Gleichung nimmt und das Turnier zurückerfindet. Weniger Gigantismus, mehr Fußballkultur: auch das könnte die WM als sportliches Großereignis wieder näher an die Menschen bringen.
Wer schaut die WM 2022?
Die Gretchenfrage 2022 lautet also: Gucken oder nicht gucken, wenn Deutschland am 23. November das erste Spiel bestreitet? Für Tuğba Tekkal steht schon mal fest, dass sie nicht schauen wird – selbst wenn die deutsche Nationalelf es bis ins Finale schafft. Wenn Sportlerkneipen nun ebenfalls die TV-Geräte nicht einschalten, wenn Fußballclubs und Fans die WM boykottieren: „Das ist genau die Art von Boykott, die es braucht“, findet sie.
Frank Plasberg zumindest hat rein theoretisch nun sehr viel Zeit, jedes Spiel dieser WM live anzuschauen: Nach knapp 22 Jahren als „Hart aber fair“-Moderator hört der 65-Jährige nun auf. Ein bisschen melancholisch guckt er, als sich seine letzte Runde dem Ende entgegengeht und er nicht nur Blumen, sondern auch Standing Ovations von Mitarbeitenden und Publikum entgegennimmt. In einer leicht zittrigen Abschiedsrede zitiert Plasberg den Rat eines Professors, den dieser selbst zum Start ins Rentenleben erhielt: „Immer helle Kleidung tragen und gut riechen.“ Doch trotz aller Rührung sagt Plasberg aber auch: „Für mich ist es ein schöner Tag“. Dann übergibt er an die „Tagesthemen“. Wie immer.