Thomas Hitzlsperger: «Es reicht nicht, an einem Tag im Jahr die Regenbogenfahne zu posten»

Der ehemalige deutsche Fussball-Nationalspieler engagiert sich im Kampf gegen Homophobie. Er sagt, wo es Erfolge gibt – und was Diskriminierung für die Atmosphäre in der Kabine bedeuten kann.

Thomas Hitzlsperger blickt auf die Diskriminierung Homosexueller im Profifussball.
Herr Hitzlsperger, wie homophob ist der Profifussball?

Ich kenne in Deutschland keinen Klub, der sich nicht aktiv gegen Diskriminierungen wehrt und nicht versucht, seiner gesellschaftlichen Verantwortung gerecht zu werden. Gerade in letzter Zeit gibt es hier eine positive Entwicklung. Doch es reicht nicht, sein Profilfoto zu ändern oder an einem Tag im Jahr die Regenbogenfahne zu posten. Die Symbolik hat zugenommen, was fehlt, ist jedoch noch vielerorts die Substanz.

Die Funktionäre und deren Bekenntnisse sind die eine Seite. Nicht weniger wichtig ist, was in der Fankurve und in der Kabine passiert.

Die Kurven sind bis auf wenige Einzelfälle oft weiter als die Klubs. Sie sind teilweise sogar politisch sehr aktiv, und ich würde mir wünschen, dass sich ihr positives Handeln noch stärker auf die Kabinen überträgt.

Aber was glauben Sie: Wie ist heute der Slang in einer Kabine?

Es hat etwas Zweischneidiges. Ich bin schon auch dafür, dass man sich in einem Wettkampf reiben kann; dass es physisch härter zugehen kann – und dass man vielleicht auch eine andere Sprache an den Tag legt. Das gehört zum Sport. Wenn es aber eine klare Absicht gibt, Spieler zu diskriminieren, wird eine Grenze überschritten. Und da muss man einschreiten.

Wie?

Ich finde, dass sich um die Spieler herum viel verändert hat – dass sie merken, was richtig und was falsch ist. Sie überlegen, bevor sie sprechen. Aber aus der Emotion heraus kann immer auch etwas passieren, wie bei dem Interview von Marius Müller.

Marius Müller, der Torhüter des FC Luzern, sprach nach einem Spiel Mitte August vom «schwulen Weggedrehe» seiner Mitspieler. Wie soll mit so einem Spieler umgegangen werden?

Entscheidend ist, dass er versteht, wie wichtig die Sprache ist und warum solche Aussagen nicht in unsere Zeit passen, nie richtig waren. Wir müssen bei unseren Äusserungen lernen, dass wir die Perspektive derer einnehmen, die in der Minderheit sind und die Diskriminierung kennen und erfahren. Bewusstsein führt zu Veränderung.

Was macht eine Aussage wie von Marius Müller mit Ihnen?

Mich berührt es nicht. Ich bin in einer anderen Phase in meinem Leben. Er kann mich damit nicht verletzen. Aber darum geht es auch gar nicht.

Sondern?

Es geht um Spieler und Menschen im Allgemeinen, die sensibler sind, die sich vielleicht überlegen, sich zu outen, die sich unwohl fühlen. Sie gilt es zu stärken und nicht mit solchen Aussagen zu schwächen.

Aber früher hätte es Sie gestört?

Absolut. Viele denken so, er spricht es aus, hätte ich vermutlich gedacht.

Marius Müller bekam eine Busse von 2000 Franken.

Es geht weniger um die Höhe der Strafe als um das Zeichen. Die richtige Sanktion ist die, die dazu führt, dass er versteht, dass es falsch war – und dass er künftig im privaten und im öffentlichen Raum adäquate Formulierungen findet und keine Klischees bedient. Dass er erkennt, dass er in seiner Vorbildrolle als Fussballprofi nicht so auftreten sollte.

Sie sagten einmal sinngemäss, junge Spieler könnten heute über Homosexualität sprechen – weil man auch an Ihrem Beispiel sehe, dass man homosexuell sein könne und ein erfolgreicher Profifussballer. Warum gibt es dann nicht mehr Comingouts?

Das ist eine sehr schwierige Frage, weil es immer um Einzelfälle geht, um verschiedene Umfelder, um andere Familien- und Beratersituationen. Und dann gibt es wahrscheinlich immer wieder einen guten Grund, es nicht zu tun. Es wird sehr viel mit Ängsten gearbeitet.

Mit was für Ängsten?

Es geht um die Sorge davor, dass sich das Leben nach einem Comingout zum Schlechteren wendet. Ich versuche, dagegen zu argumentieren und Mut zu machen.

Sie machten diesen Schritt aber auch erst nach dem Rücktritt.

Auch mir wurde prognostiziert, dass es nach dem Comingout extrem schwierig würde, im Fussballgeschäft zu bleiben, bzw. dass man mich nur darauf reduzieren würde. Ich trat den Gegenbeweis an und fand im Fussballumfeld meinen Platz, in unterschiedlichen Rollen.

Aber nochmals: Warum gibt es so wenige Comingouts?

Es sind meist junge Menschen, die von vielen Seiten beraten werden. Sie geben vieles aus der Hand, teilweise einfachste Dinge, sie müssen nur noch zum Training und zum Spiel erscheinen. Sobald es um wichtige Lebensfragen geht, lassen sie sich ebenso helfen. Und wenn es enge Vertraute gibt, die vom Comingout abraten, hören sie darauf.

Wie sehen Sie es im Nachhinein: Hätten Sie das Comingout schon vor Ihrem Rücktritt wagen sollen?

Ich unternahm den Versuch in der Saison 2011/12, da spielte ich in Wolfsburg. Ich fand: Ich möchte das jetzt tun. Und natürlich hatte ich auch diese vielen Fragen – wie reagieren Fans, Öffentlichkeit, Mitspieler? Also sprach ich mit einem Journalisten und einem Anwalt darüber, und der Anwalt riet mir davon ab. Er sagte: «Lassen Sie das bleiben. Sie können im Privaten machen, was Sie wollen, aber reden Sie nicht öffentlich darüber.» So geht es vielen.

«Wenn es enge Vertraute gibt, die vom Comingout abraten, hören die Spieler darauf»

Aber eben – wie sehen Sie es heute?

Der Anwalt war der Auffassung, dass es für mich zu viel Druck wäre; dass ich nicht in der Lage wäre, das auszuhalten, die ganze Aufmerksamkeit, alles, was damit einhergeht. Es ist müssig zu erörtern, ob er recht hatte. Aber nach der Karriere liess ich es mir nicht mehr ausreden. Und wissen Sie was?

Nein.

Wir wundern uns, warum sich so wenige aktive Spieler outen – aber warum outet sich auch nach der Karriere fast niemand? Mir wird manchmal der Vorwurf gemacht, dass ich mich nicht schon als Spieler geäussert habe. Stimmt, machte ich nicht. Aber ich machte es danach, und ich bin sehr zufrieden, wie sich alles entwickelt hat.

Aber das bekannte Tabu vermochte Ihr Comingout offensichtlich nicht zu brechen.

Wenn es darum geht, dass sich andere Spieler outen, half mein Comingout nicht viel. Es gibt einen Zweitligaspieler in England, einen Profi in den USA und einen in Australien, die mir bekannt sind – aber manche Menschen sehnen sich nach einem Profi oder mehreren Profis in den Top-5-Ligen, die sich outen, ein Nationalspieler müsste es sein, am besten noch ein Weltstar. Okay – und dann ist alles gut?

Nicht?

Man sollte es differenzierter betrachten. Was sich bei Klubs, Fans und Medien verbessert hat, ist enorm. Es gibt schwul-lesbische Fanklubs, die in ganz Europa vernetzt sind. Am Christopher Street Day beteiligen sich mittlerweile deutsche Fussballklubs, Verbände. Das war in dieser Ausprägung vor zehn Jahren undenkbar.

Sie erwähnten, dass Ihnen zu Ihrer Aktivzeit vom Comingout abgeraten worden sei, weil Sie den Druck nicht ausgehalten hätten. Uns sagte ein langjähriger Schweizer Profi: Ihm wäre es egal gewesen, wenn sich ein Teamkollege geoutet hätte – aber ja, er hätte ihm ebenfalls abgeraten, weil er darauf reduziert worden wäre.

Warum sollte es so sein? Glauben Sie wirklich, dass Fussballer und Fans nichts Besseres zu tun haben, als jeden Tag über die Sexualität ihres Kollegen zu sprechen?

Es ging mehr darum, dass die Leute ausserhalb der Kabine mit ihm nicht mehr über das Spiel, sondern nur noch übers Schwulsein geredet hätten – und dass er in dieser und jener Talkshow zum Thema gemacht worden wäre.

Es gibt so viele wirtschaftliche und humanitäre Probleme auf dieser Welt, es gibt sogar seit Februar vor unserer Haustür einen Krieg in Europa. Beim besten Willen: Ja, es gibt dann temporär eine Aufregung, aber man sollte es richtig einordnen.

Wird die Bereitschaft der Fussballer zu Toleranz unterschätzt?

Eine Kabine mit rund 25 Spielern ist wahrscheinlich ein gutes Spiegelbild der Gesellschaft. Da werden viele drin sein, die nach einem Comingout sagen: «Cool, der traut sich was.» Oder: «Finde ich gut, ich habe aber meine eigenen Themen.» Von den restlichen Spielern fühlen sich ein paar unwohl, trauen sich das aber nicht zu artikulieren, weil sie wissen, dass es eine Diskussion auslösen würde, und zwei sagen: «Geht gar nicht.» Und wenn nur einer dieser beiden seine Meinung öffentlich macht, heisst es: Der Fussball ist nicht bereit, der Fussball ist rückständig.

Was passiert im Team, wenn diese beiden finden: Geht gar nicht?

Es beginnt leider schon vorher: dass ein Spieler, der daran denkt, sich zu outen, die Angst verspürt, dadurch die Stimmung in der Kabine zu verändern.

Wie kann sich die Stimmung in der Kabine verändern?

Wenn Unruhe entsteht, weil Spieler sagen, mit dem ziehe ich mich nicht um. Wenn etwas wabert und nicht weggeht und damit letztlich womöglich schlechte Ergebnisse in Verbindung gebracht werden, hat man eine Diskussion, die man sich ersparen will. Da sind dann der Trainer und der gesamte Verein gefordert.

Clarence Seedorf fragte Sie vor einigen Jahren öffentlich, ob es nötig sei, dass sich Homosexuelle über ihre sexuelle Orientierung äussern würden – Heterosexuelle täten es auch nicht. Sie legten dar, wann immer herauskomme, dass ein Fussballer seine Frau betrüge, gehe es um seine Sexualität. Und auch wenn Sie im Büro bei Kollegen Familienfotos sähen, sage es etwas über die sexuelle Orientierung aus.

Es war ein glücklicher Umstand, dass Clarence diese Frage stellte, weil er manchen Menschen aus der Seele sprach. Und mir ist es gelungen, die Notwendigkeit eines öffentlichen Comingouts deutlich zu machen. Ich versuche, meine Rolle nach wie vor so zu sehen: Wie kann ich Menschen, die ein Problem damit haben, dazu bringen, dass sie nachdenken? Und das mache ich nicht, wenn ich mich täglich aufs Neue oute und anderen sage, sie müssten ihre Haltung jetzt sofort ändern.

Sondern?

Indem ich sukzessive erkläre, was ein Teil von mir ist – dass ich aber in meinem Verhalten und in meinen Ansichten nicht viel anders bin wie du. Ein Comingout ist wichtig, um Menschen Mut zu geben. Man muss mit Argumenten versuchen, Menschen zu überzeugen, die bis dahin den Blick gar nicht hatten; die sich einfach nur daran stören, dass einer schwul ist. Es ist notwendig, weil eben nicht so schnell ein Fussballer auftaucht und sagt: «Das ist mein Freund, und wir haben geheiratet.»

Vorher braucht es quasi einen Zwischenschritt.

Zuerst muss man mal sagen, dass man schwul ist. Es wäre mir auch lieber, wenn es anders wäre. Denn all die anderen, die in der Zeitung auftauchen mit ihren Freundinnen oder Scheidungen oder auf Urlaubsbildern mit einer neuen Freundin – die teilen mir auch ungefragt ihre sexuelle Orientierung mit. Wir sind aber in einer heteronormativen Gesellschaft, deswegen muss man sich nicht mehr als heterosexuell outen.

Denken Sie, schon viel erreicht zu haben?

Ich mache weiter. Mich hat noch niemand gerügt und gesagt, dass alles ganz schlimm sei, was ich da mache. Und zugleich mache ich auch weiter im Fussball. Ich will nicht nur ein Fürsprecher der Community sein, ich möchte auch die Verbindung aufrechterhalten und zeigen, dass Homosexualität und Fussball zusammengeht, egal in welcher Rolle. Daher glaube ich, dass ich etwas erreicht habe.

Von 2019 bis 2022 arbeiteten Sie im VfB Stuttgart als Sportvorstand. Nahmen Sie aus der VfB-Kabine nie Misstöne gegenüber Ihrer sexuellen Orientierung wahr? Oder konnte es sich ohnehin niemand erlauben, weil Sie der Chef waren?

Ich will nicht ausschliessen, dass es vorkam, aber ich nahm es nicht wahr. Ich war nicht täglich in der Kabine, aber ich hatte natürlich Kontakt mit Spielern und dem Trainerteam, und ich habe mich nie unwohl gefühlt. Ich war auch im Kreis der 36 Klubs der Deutschen Fussballliga: Wir haben über Fussball gesprochen. Fast ausschliesslich.

Sie sehen viel Positives – aber bleibt nicht doch dieselbe Frage, wie Sie schon vor acht Jahren formuliert worden war, nach Ihrem Comingout: Was braucht es für ein nächstes Comingout eines international bekannten Fussballers, ob aktiv oder ehemalig?

Es geht darum, weiter daran zu appellieren, dass sexuelle Orientierung kein Grund ist, Menschen zu diskriminieren. Aber das ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Und wir merken, dass jede positive Veränderung nicht automatisch zementiert ist. Es geht darum, weiterzukämpfen und so hoffentlich ein Umfeld zu kreieren, dass wieder ein Spieler sagt: «Ich lasse mir von einem Berater, von meinem Umfeld nichts sagen, nein, ich möchte das jetzt tun.»

Erscheinungsdatum:
September 28, 2022
Herausgeber:
Neue Zürcher Zeitung
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